
📖 Kapitel 1: Vier Freunde und ein ziemlich verbotener Spaß
Ort: Die Lagune von Korallina.
Zeit: Irgendwann zwischen Ebbe und Flut.
Regel Nummer Eins im Meer: Kein Tier macht mit dem Feind Freundschaft. Punkt.
Aber Regeln sind wie Seegurken: glitschig, langsam – und manchmal zum Lachen.
🌊 „Das ist doch Wahnsinn!“, schnappte Rako.
Der junge Hai kreiste aufgebracht um die Mondspalte, eine verborgene Unterwasserhöhle zwischen zwei Riffen, die aussah wie ein riesiges, unterseeisches Lächeln. Sein Schwanz zitterte leicht vor Aufregung.
„Wenn uns jemand erwischt… Ich meine, du bist ein Seestern, Sila. Für meine Familie bist du eigentlich… eine Vorspeise!“ „Uuuh, lecker!“, gluckste Dali der Delfin und machte eine Pirouette in der Strömung. „Mit einem Spritzer Algenöl vielleicht?“ „Dali! Nicht witzig!“, rief Sila empört und leuchtete hellpink vor Aufregung. „Ich bin eine brillante Gesprächspartnerin, kein Meeres-Snack!“ „Beruhigt euch“, sagte Onda ruhig und schwebte wie eine elegante Wolke durch die Höhle. Mit ihren acht Armen konnte sie gleichzeitig drei kleine Krebse streicheln, ein Gedicht aus Tintenblasen schreiben und Dali sanft eine Blase gegen die Nase schnippen.
So waren sie. Vier Tiere, die unterschiedlicher nicht sein konnten – und trotzdem die besten Freunde der Unterwasserwelt.
Dali war der Träumer, der Spaßvogel. Immer ein Witz auf den Lippen und immer zu schnell zum Einfangen.
Rako war der große Bruder der Gruppe, stark, ernst und ein bisschen übervorsichtig.
Sila war winzig, aber mit einem Gehirn, das schneller arbeitete als ein ganzer Schwarm Sardinen.
Onda war leise, klug, ein bisschen geheimnisvoll – und ziemlich gut darin, unsichtbar zu werden, wenn sie wollte.
Und obwohl ihre Arten sich in der echten Welt kaum mit dem Flossenspitzen begrüßen würden, waren diese vier seit ihren Kindheitstagen unzertrennlich.
🐚 Die Geburt einer verbotenen Freundschaft
Es hatte alles damit begonnen, dass sie nebeneinander aufgewachsen waren. In einem kleinen Küstenriff, wo Strömungen alle durcheinanderwirbelten und die Schulen nie pünktlich waren. Onda hatte als Babykrake versucht, in Sila zu beißen – nicht aus Bosheit, sondern weil sie dachte, der Seestern sei ein Spielzeug. Sila hatte daraufhin leuchtend grün gepulst und sich totgestellt. Dali war vorbeigeschwommen, hatte gelacht, und gesagt:
„Wow! Ein leuchtender Keks! Wer hat den gebacken?“
Und Rako, damals noch mit Milchzahnflosse, hatte gebrummt:
„Lasst das arme Ding in Ruhe. Oder ich knabber euch selbst die Tentakel ab.“
Seitdem waren sie Freunde. Heimlich natürlich. Denn kein anderer im Meer verstand so eine Verbindung. Nicht die älteren Haie, nicht die anderen Delfine, schon gar nicht die Korallenältesten.
🐟 Und dann kamen… die Menschen.
Zuerst waren sie nur Schatten auf der Oberfläche. Seltsame, fliegende Beine, die auf der Wasserhaut trippelten. Sie kamen mit einem knatternden Ding, das sie „Boot“ nannten, und warfen Leinen ins Wasser, an denen etwas Glänzendes hing.
„Sie fangen Fische!“, rief Rako entsetzt.
„Sie singen Lieder mit Stimmen wie krächzende Möwen!“, meinte Dali.
„Sie tragen seltsame Häute und machen komische Geräusche mit ihren Gesichtern“, murmelte Onda.
„Aber sie lachen...“, flüsterte Sila. „Fast so wie wir.“
Sie beschlossen, die Wesen vom Ufer genauer zu beobachten.
🧍♂️🧍♀️ Die vier Menschen: eine Spiegelung
Die vier kamen fast jeden Tag. Sie fuhren mit einem kleinen weißen Boot hinaus – die „Flora“ – und lachten, plauderten, sangen und manchmal fingen sie Fische. Aber sie schienen sich mehr für das Wasser selbst zu interessieren.
Die Meeresfreunde gaben ihnen Namen:
-
Leo, der Künstler. Er malte in ein kleines Buch mit bunten Strichen, und seine Haare standen in alle Richtungen wie Seegras im Sturm.
-
Jonas, der Beschützer. Ruhig, breit gebaut, mit einem Blick wie eine Schildkröte: langsam, aber durchdringend.
-
Mila, die Denkerin. Sie redete viel, fragte noch mehr und hatte ein Lachen wie perlendes Sprudelwasser.
-
Ella, die Stille. Sie sagte selten etwas, aber ihre Augen sahen Dinge, die andere übersahen.
„Wie bei uns“, flüsterte Onda eines Tages.
„Genau! Leo ist wie Dali, ein bunter Vogel unter Fischen!“, meinte Sila.
„Jonas ist wie ich… nur mit Beinen“, brummte Rako.
„Und Ella...“, Onda seufzte. „Sie hat meine Tinten-Seele.“
🎣 Streiche unter der Wasseroberfläche
Zuerst waren sie vorsichtig. Sie beobachteten. Hörten zu. Doch dann – wie sollte es anders sein – kam Dali auf eine Idee.
„Was, wenn wir ihnen kleine Streiche spielen? Nur um zu sehen, wie sie reagieren?“ „Was, wenn sie uns entdecken?“, warnte Rako.
„Dann lachen wir ganz schnell und verschwinden!“, gluckste Dali.
Und so begann das große Meeres-Menschen-Streich-Festival.
-
Sila leuchtete im Dunkeln direkt unter dem Boot. Leo fiel fast ins Wasser vor Schreck.
-
Rako blubberte Luftblasen genau unter Jonas’ Sitz, sodass dieser aufsprang und rief: „HILFE, EIN PO-ANGREIFER!“
-
Onda schrieb mit Tintenstrahlen kleine Nachrichten ans Boot: „Nächster Halt: Nixeninsel.“
-
Dali... nun, Dali klaute ein Sandwich. Wirklich. Einfach so. Es war Thunfisch. Ironie des Schicksals.
Die Menschen lachten. Sie lachten und sahen sich um. Sie wussten nicht, wer ihnen Streiche spielte – doch sie lachten.
🚫 Der Wendepunkt
Eines Tages war alles anders.
Die Flora kam nicht. Und am Ufer lagen Müllberge. Dosen. Tüten. Eine zerbrochene Angel.
„Was ist passiert?“, flüsterte Onda.
„Vielleicht... haben sie genug?“, sagte Sila leise.
„Oder jemand hat sie gesehen. Und verjagt.“ Rako zitterte vor Wut.
Doch zwei Tage später kam das Boot wieder – ohne Angelruten. Stattdessen mit Säcken. Müllsäcken.
Leo sammelte Plastik aus dem Wasser. Mila tauchte fast kopfüber, um eine alte Flasche zu greifen. Jonas zog ein altes Fischernetz heraus. Ella schrieb mit Kreide auf eine Tafel:
„Wir säubern, was wir lieben.“
Die vier Meerfreunde beobachteten – und beschlossen, dass es Zeit war.
💧 Eine Nachricht im Wasser
Mit Muscheln und Korallen, Algenfäden und Seepferdchensand bastelten sie eine Botschaft auf dem Meeresgrund, direkt unter dem Boot.
„Danke. Für das Sehen. Für das Fühlen. Für das Lassen.“
– Eure Freunde unter den Wellen
Als die Flora langsam über das Muster trieb, sah Leo es zuerst.
„Hey... was ist DAS?!“
„Ein Kunstwerk?“
„Nein“, flüsterte Ella. „Eine Antwort.“
Und tief unter der Oberfläche, in der Mondspalte, leuchteten vier Freunde in allen Farben des Ozeans.
🧜♂️ Fortsetzung folgt...
📖 Kapitel 2: Verborgene Zeichen und gesellige Treffen
„Freundschaft ist wie ein Muschellied – man muss ganz genau hinhören, um sie zu verstehen.“
– Onda, die Krake
🌊 1. Der Tag nach der Nachricht
Es war ein leiser Morgen in der Lagune von Korallina. Die Sonne tupfte goldene Muster auf die Wasseroberfläche, und unter den Wellen schwebte eine gespannte Stille – eine Stille, wie sie nur nach einem mutigen Schritt entsteht.
„Sie haben es gelesen! Ich hab’s genau gesehen!“, quietschte Sila, der kleine Seestern, und ließ ihre Arme fröhlich in alle Richtungen zucken. „Ja, aber… was, wenn sie Angst bekommen haben?“, brummte Rako, der Hai, während er mit der Schwanzflosse auf den Sand klopfte. „Angst? Vor uns?“, lachte Dali. „Ich bin der flauschigste Delfin der Welt! Ich hab mal mit einem Seeotter gekuschelt!“ „Nicht so laut“, flüsterte Onda. „Heute könnten sie wiederkommen.“
Sie alle schwebten in der Nähe der Stelle, wo das Boot „Flora“ sonst ankerte. Die Botschaft auf dem Meeresboden war verschwunden – vom Wind verweht und von Wellen umarmt. Doch die Hoffnung blieb.
Und tatsächlich, kurz vor Mittag, kam das Boot zurück.
🚤 2. Ein neuer Kurs
Diesmal war alles anders.
Keine Angeln. Keine Netze. Nur vier Menschen mit neugierigen Augen, Notizbüchern, Kameras – und einem seltsamen Gegenstand in der Mitte des Boots: ein großer, bunter Würfel mit Bildern an jeder Seite.
„Was ist das denn?!“, flüsterte Sila. „Das sieht aus wie... ein Geschichtenkasten“, murmelte Onda. „Vielleicht ein Spiel?“
Die vier Freunde tauchten auf verschiedene Seiten des Boots – nicht zu nah, aber nah genug. Und sie sahen:
-
Leo zeigte auf ein Bild mit einem Delfin und sagte laut: „Dali.“
-
Jonas deutete auf eine kleine Zeichnung eines Seesterns: „Sila.“
-
Mila zeigte auf ein Krakenbild: „Onda.“
-
Und Ella auf einen Hai: „Rako.“
Dann alle zusammen:
„Freunde?“
„Oh. Mein. Muschelkeks.“, japste Dali.
„Sie wissen von uns!“, quietschte Sila.
„Sie kennen unsere Namen…“, staunte Rako.
„Sie haben zugehört…“, flüsterte Onda.
🧩 3. Der erste Versuch
An diesem Tag geschah etwas Unglaubliches: Die erste Kommunikation.
Leo warf eine durchsichtige Kugel ins Wasser. Darin war ein Zettel, auf dem stand:
„Wenn ihr lesen könnt: Schreibt zurück. Sonst blubbert.“
Dali schob die Kugel zu Onda. Sie öffnete sie mit ihren Armen, zog ein kleines Tintenschriftzeichen aus ihrer Tasche (die sie aus Algen gemacht hatte), und schrieb:
„Wir blubbern UND denken.“
Sie schob die Kugel zurück. Die vier Menschen beugten sich darüber, lasen – und lachten.
Ab diesem Tag trafen sie sich drei Mal pro Woche, immer zur selben Zeit:
Montag, Mittwoch, Freitag. Zur „Wellenstunde“.
🗓️ 4. Die Wellenstunde
Die Wellenstunde war ein Zauberzeitpunkt – genau zwischen Ebbe und Flut, wenn das Wasser kurz stillstand. Nicht zu stürmisch, nicht zu ruhig. Perfekt für ein Treffen zwischen zwei Welten.
Sie erfanden Rituale:
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Dali sprang immer zuerst aus dem Wasser und warf eine Muschel ins Boot.
-
Jonas warf eine Blume ins Meer – meist Gänseblümchen oder Löwenzahn.
-
Sila tanzte ein Sternmuster auf dem Sandboden.
-
Mila klatschte dreimal in die Hände und warf eine Banane ins Wasser („Sie mögen keine Bananen, aber es ist Tradition!“).
-
Rako schwamm ein Dreieck um das Boot.
-
Leo filmte die Bewegung mit seiner Kamera.
-
Onda schrieb jedes Mal ein neues Gedicht – in Tintenblasen.
Sie redeten ohne Worte.
Sie verstanden sich trotzdem.
💬 5. „Was, wenn wir sprechen könnten?“
Am siebten Treffen saßen die vier Menschen am Rand des Boots, die Beine im Wasser.
Leo sagte leise: „Was, wenn wir mit ihnen reden könnten?“
Ella antwortete: „Vielleicht tun wir das schon.“
„Ich hab sie letztens singen hören“, sagte Mila.
Jonas nickte. „Dali hat mir zugewunken. Ich schwöre es.“
Unter Wasser hatte Dali tatsächlich gewunken – aber es war mehr ein Flossenkitzeln gewesen.
„Wenn sie doch nur wussten, wie viel wir ihnen sagen wollen…“, seufzte Sila.
„Vielleicht… müssen wir es anders versuchen“, sagte Onda. „Mit Zeichen. Spielen. Geschichten.“
🎭 6. Die Theaterwoche
Und so erfanden sie das erste Meeres-Theaterstück.
Sie spielten Szenen aus ihrem Leben nach:
-
Wie Rako sich einmal in einen Plastikreifen verheddert hatte.
-
Wie Dali versehentlich in ein Fischernetz geraten war – und Sila ihn rausgeschnitten hatte.
-
Wie Onda sich als Seetang getarnt hatte, um ein gruseliges Taucherteam auszuspionieren.
Sie nutzten Muscheln als Requisiten, Krebse als Statisten und bunte Algen als Vorhang. Die Menschen auf dem Boot klatschten begeistert.
Leo schrieb in sein Notizbuch: „Sie erzählen Geschichten. Wie wir.“
📖 7. Gemeinsame Lektionen
Von da an brachten die Menschen Sachen zum Lernen mit.
-
Leo bastelte einfache Symbole mit wasserfestem Papier: 🐬 = Dali, 🌊 = Meer, 💚 = Freundschaft.
-
Mila malte kleine Bilder vom Müll, den sie sammelten, mit traurigen und fröhlichen Gesichtern.
-
Jonas baute eine kleine Plastikfalle, um Müll einzufangen – ein Geschenk für die Meeresfreunde.
-
Ella schrieb ein Buch mit dem Titel: „Briefe ans Wasser“.
Onda antwortete mit einem Tintenbrief:
„Worte sind wie Wellen – sie brauchen Geduld.“
🧼 8. Die erste gemeinsame Mission
An einem stürmischen Freitag kam das Boot mit düsterer Miene. Über Nacht hatte es einen Unfall in der Bucht gegeben – ein Ausflugsschiff war leckgeschlagen und hatte Müll ins Wasser gekippt.
Die Menschen sahen entsetzt zu, wie Plastikflaschen trieben, Tüten wie Quallen flatterten.
„Wir müssen helfen!“, rief Mila.
„Aber wie?“, fragte Jonas.
Da tauchten sie auf – die vier Freunde.
-
Rako schleppte ein altes Fischernetz heran, das Jonas befestigte.
-
Dali wirbelte Müll in eine Ecke, wo Leo ihn einsammeln konnte.
-
Sila markierte die größten Müllfelder mit leuchtenden Mustern.
-
Onda schrieb: „Zusammen schaffen wir’s.“
Es wurde der erste gemeinsame Rettungstag.
Und alle wussten: Es war nur der Anfang.
🌅 9. Am Ende eines Treffens
Am Ende des Tages lagen die vier Menschen auf dem Boot, die Hände im Wasser.
„Ich glaube…“, murmelte Leo, „…wir sind Teil von etwas Größerem.“
„Eine Freundschaft, die nicht sein dürfte – und doch wunderbar ist“, sagte Ella.
„Ich hoffe, sie spüren das auch“, meinte Mila.
Jonas nickte: „Ich glaube, sie spüren es sogar besser als wir.“
Unter Wasser lagen die vier Freunde nebeneinander, völlig erschöpft – aber glücklich.
„Ich liebe sie“, sagte Sila.
„Sie gehören zu uns“, brummte Rako.
„Sie hören uns“, flüsterte Onda.
Dali grinste: „Und sie werfen uns keine Bananen mehr zu. Was will man mehr?“
🐚 Und so geschah das Unfassbare:
Zwei Welten, die sich nie begegnen sollten,
trafen sich regelmäßig zur Wellenstunde,
sprachen ohne Sprache,
lernten ohne Lehrer,
und wuchsen…
zu einer Familie zusammen.
🧜♂️ Fortsetzung folgt...

Kapitel 1: Die stille Königin des Spielfelds
Silke zog die Knie an, ihre Fingerspitzen berührten den staubigen Hallenboden. Ihre Augen waren starr auf den Volleyball gerichtet, der in einer perfekten Flugbahn über das Netz segelte. Ihr Herz hämmerte, ihr Körper spannte sich – dann schoss sie nach vorn. Mit einem kraftvollen Sprung erwischte sie den Ball genau in der richtigen Höhe und ließ ihn unhaltbar auf die gegnerische Spielfeldhälfte prallen.
Ein Moment der Stille. Dann brach Jubel aus.
„Yes! Silke, du bist unglaublich!“ rief ihre Freundin Karla, während das gesamte Team in Begeisterung ausbrach.
Doch Silke trat nur bescheiden zurück, strich sich eine widerspenstige Haarsträhne hinters Ohr und murmelte: „War Glück.“
„Glück? Unsinn! Ohne dich hätten wir das nie gewonnen!“ Karla schob spielerisch ihre Schulter gegen Silkes, doch diese zuckte nur mit den Schultern.
Das Lob ließ ihre Wangen heiß werden. Es war nicht so, dass sie sich nicht freute – sie wusste nur nie, wie sie damit umgehen sollte.
Sie war sechzehn, spielte leidenschaftlich gern Volleyball und war tatsächlich ziemlich gut darin. Doch so selbstbewusst, wie sie auf dem Spielfeld agierte, war sie im echten Leben nicht. Besonders dann nicht, wenn Horst in der Nähe war.
Horst.
Der Name löste sofort ein vertrautes Kribbeln in ihrem Bauch aus. Horst war groß, sportlich, hatte dunkelblonde Haare und strahlend blaue Augen, in denen sie sich jedes Mal verlor, wenn er an ihr vorbeiging. Er spielte im Jungenteam Volleyball und hatte eine selbstbewusste Art, die Silke gleichermaßen faszinierte und einschüchterte.
„Du träumst schon wieder.“
Silke zuckte zusammen, als Karla ihr grinsend in die Seite stupste.
„Hä? Was?“
„Horst“, sagte Karla bedeutungsvoll und deutete mit ihrem Kopf in eine Richtung.
Silke wagte es kaum, sich umzudrehen – aber natürlich tat sie es. Dort stand er, umgeben von seinen Teamkollegen, ein Handtuch lässig über die Schultern gelegt. Und dann geschah es.
Er sah direkt zu ihr.
Sein Blick traf ihren, und für einen Wimpernschlag lang hielt die Welt den Atem an. Dann – ein Lächeln.
Silkes Herz setzte einen Schlag aus.
„Er hat gelächelt“, flüsterte Karla begeistert.
„Hör auf“, murmelte Silke und drehte sich hastig weg, als würde das allein verhindern, dass ihre Wangen knallrot wurden.
„Warum bist du immer so?“ Karla verschränkte die Arme. „Du bist hübsch, talentiert, klug – warum traust du dich nicht einfach mal, ihn anzusprechen?“
„Ich bin nicht wie du.“
„Ach Quatsch. Du unterschätzt dich total.“
Silke schüttelte den Kopf. Es war nicht so einfach. Karla konnte mit Jungs reden, scherzen, flirten – all das, wovor Silke eine regelrechte Blockade hatte. Sie konnte sich nicht einmal vorstellen, Horst auch nur nach den Hausaufgaben zu fragen, geschweige denn ihm zu sagen, dass sie ihn mochte.
Und als wäre das nicht schon genug, stand der Valentinstag vor der Tür.
Jedes Jahr veranstaltete ihre Schule eine Valentinsaktion. Schüler konnten anonym oder offen Rosen verschicken. Karla war sich sicher, dass Silke Horst eine Rose schenken sollte, aber allein die Vorstellung, ihm eine in die Hand zu drücken, ließ sie innerlich erstarren.
„Ich kann das nicht.“
„Doch, kannst du“, entgegnete Karla bestimmt. „Du traust dich bloß nicht. Aber weißt du, was der erste Schritt ist?“
„Ich bin sicher, du wirst es mir sagen“, seufzte Silke.
„Fang an, an dich selbst zu glauben.“
Silke war still.
Sie wollte Karla glauben. Sie wollte, dass es so einfach war. Aber Selbstvertrauen ließ sich nicht einfach herbeiwünschen – oder etwa doch?
Nach dem Training saßen die Mädchen auf der Tribüne, tranken Wasser und beobachteten das Jungenteam, das noch trainierte.
Horst sprang in die Luft, erwischte den Ball mit einem kraftvollen Schmetterschlag, der die Halle erzittern ließ. Ein Raunen ging durch die Zuschauer.
„Er ist gut“, murmelte Silke.
„Ja, und er hält dich für gut“, sagte Karla.
Silke verzog das Gesicht. „Wie kommst du da drauf?“
„Weil er dich beobachtet.“
„Das bildest du dir ein.“
„Tu ich nicht. Er hat es getan, als du auf dem Feld warst, und er hat es vorhin getan. Und jetzt tut er es wieder.“
Silke wagte es nicht, hinzusehen.
„Irgendwann wirst du es einsehen“, meinte Karla geheimnisvoll.
Silke zuckte mit den Schultern, doch tief in ihr keimte ein kleiner Funke Hoffnung. Vielleicht hatte Karla ja doch recht.
Kapitel 2: Kaffee, Kuchen und ungebetene Ratschläge
Der Sonntag bei Tante Elli und Onkel Heinz war für Silke so vorhersehbar wie das Amen in der Kirche: Erst gab es Kaffee und Kuchen, dann kamen die Gespräche über Volleyball, Schule und schließlich die unausweichliche Frage nach den Jungs.
Silke saß am alten Holztisch in der warmen, duftenden Küche ihrer Tante und schnitt sich ein Stück von dem Apfelkuchen ab, den Elli gerade mit stolzgeschwellter Brust serviert hatte. Ihre Eltern, Karla und Manfred, saßen ebenfalls dabei, und Heinz schenkte sich eine zweite Tasse Kaffee ein.
„Also, wie war das letzte Spiel?“ fragte Onkel Heinz, während er genüsslich an seiner Tasse nippte.
„Gut“, antwortete Silke höflich und hoffte, dass das als Antwort genügte.
„Gut?“ Tante Elli klatschte mit der Hand auf den Tisch. „Deine Mutter erzählt uns immer, dass du die Beste im Team bist!“
„Ach, na ja…“ Silke schob verlegen ihr Kuchenstück auf dem Teller hin und her.
„Du solltest nicht so bescheiden sein“, meinte Elli und sah sie durchdringend an. „Manchmal muss man auch mal zeigen, was man kann.“
Silke wusste nicht, was sie darauf sagen sollte, also nahm sie einen hastigen Bissen Kuchen, um sich Zeit zu verschaffen. Doch das Gespräch nahm eine neue, unwillkommene Wendung.
„Und Jungs?“ fragte Elli mit einem verschwörerischen Lächeln. „Hast du schon einen Freund, Silke?“
Silke verschluckte sich fast am Kuchen.
Ihre Mutter seufzte. „Elli, lass das Mädchen doch.“
„Ach was, ich bin nur neugierig! Mit sechzehn hat man doch bestimmt einen Schwarm, oder?“
„Vielleicht hat sie ja einfach andere Prioritäten“, warf ihr Vater ruhig ein.
Silke schätzte seine Unterstützung. Trotzdem brannte ihr Gesicht, denn Karla grinste über ihren Kaffeebecher hinweg wissend zu ihr rüber.
„Nun ja“, begann Tante Elli in bedeutungsschwerem Ton, „wenn du mich fragst, Silke, dann solltest du nicht zu lange warten. Sonst sind die guten Jungs alle weg!“
„Oh Gott, jetzt übertreib nicht“, stöhnte ihre Mutter genervt.
„Ich sage doch nur… Mädchen wie Silke haben viele Möglichkeiten! Sie ist hübsch, klug, sportlich – die Jungs müssen doch Schlange stehen.“
„Jaja, es ist gut, Elli“, brummte Manfred und tätschelte Silkes Hand unter dem Tisch.
Doch Karla konnte sich das Grinsen nicht verkneifen. „Eigentlich gibt es da einen Jungen, der ihr gefällt.“
Silke drehte ruckartig den Kopf zu ihr. „Karla!“
„Horst, nicht wahr?“ Karla zwinkerte.
„Horst?“ Tante Elli beugte sich aufgeregt nach vorne. „Was ist das denn für ein Name?“
„Ganz normal halt! Und er ist super im Volleyball“, ergänzte Karla.
Silke schloss kurz die Augen. Das hier war der absolute Albtraum.
„Und was spricht dagegen, ihn mal anzusprechen?“ fragte Elli forsch.
„Ich… ich weiß nicht“, murmelte Silke.
„Ach Kind, in dem Alter hab ich mich schon längst getraut!“ Elli lachte und klopfte Silke leicht auf die Schulter.
„Tja, dann hab ich eben nicht dein Selbstbewusstsein“, erwiderte Silke trocken und hoffte, das Gespräch bald beenden zu können.
„Selbstbewusstsein kann man sich aneignen“, mischte sich jetzt Onkel Heinz ein. „Das ist wie im Sport. Du musst es trainieren. Je öfter du dich traust, desto leichter wird es.“
Silke dachte über seine Worte nach. Vielleicht hatte er ja recht.
Später, als sie mit Karla auf dem Heimweg war, konnte sie nicht anders, als zu stöhnen:
„Warum hast du Horst erwähnt?!“
Karla lachte. „Weil du nie darüber redest! Und ich dachte, wenn Elli mal ein bisschen bohrt, dann kommst du endlich aus deiner Komfortzone.“
„Das war nicht bohren, das war Folter!“
„Ach komm schon, es war nicht so schlimm. Außerdem hat Onkel Heinz doch einen guten Punkt gehabt.“
Silke verdrehte die Augen. „Du meinst den Teil mit dem ‚trainieren‘?“
„Ja! Denk doch mal nach. Du bist im Volleyball so stark, weil du immer dranbleibst. Warum machst du das nicht mit deinem Selbstvertrauen?“
„Weil das nicht so einfach geht.“
Karla hielt abrupt an. „Doch, tut es. Pass auf: Valentinstag steht vor der Tür. Du gibst Horst eine Rose.“
Silke riss die Augen auf. „Bist du wahnsinnig?!“
„Nein, aber du brauchst eine Herausforderung.“
„Ich kann das nicht“, flüsterte Silke und fühlte, wie ihr Herz bei der bloßen Vorstellung raste.
„Du kannst es sehr wohl. Und wenn du das schaffst, dann wirst du sehen, dass es gar nicht so schlimm ist.“
Silke schwieg. Sie wusste, dass Karla sie nur anstupsen wollte – aber das war mehr als ein Stupser. Das war ein Sprung von einer Klippe.
Doch tief in ihr regte sich etwas Neues.
Eine kleine, zaghafte Stimme.
Vielleicht sollte sie es einfach versuchen.
Kapitel 3: Mut beginnt mit kleinen Schritten
Der Valentinstag rückte unaufhaltsam näher, und mit jedem Tag wuchs Silkes Nervosität. Sie hatte es tatsächlich versprochen. Karla hatte ihr so lange in den Ohren gelegen, bis sie sich dazu hinreißen ließ, zuzustimmen: Ja, ich werde Horst eine Rose geben.
Doch je näher der große Tag kam, desto mehr fühlte sich Silke wie ein Hase im Scheinwerferlicht.
Sie stand in ihrem Zimmer und hielt eine kleine, rote Rose in der Hand. Ihre Mutter hatte sie für sie gekauft, ohne Fragen zu stellen – was Silke zu schätzen wusste. Doch jetzt, wo der Moment fast gekommen war, fragte sie sich, was sie sich dabei nur gedacht hatte.
„Ich kann das nicht“, murmelte sie zu sich selbst.
„Doch, kannst du“, tönte Karlas Stimme hinter ihr.
Silke zuckte zusammen. „Karla! Musst du mich so erschrecken?!“
„Du stehst hier seit zehn Minuten und redest mit einer Blume.“ Karla setzte sich grinsend auf Silkes Bett. „Glaub mir, du wirst es nicht bereuen.“
Silke ließ sich auf den Stuhl fallen. „Was, wenn er mich auslacht? Was, wenn er nein sagt? Oder was, wenn er mich einfach nur komisch anguckt und gar nichts sagt?“
„Dann überlebst du es.“
„Tolle Motivation.“
Karla beugte sich vor. „Silke, hör mir zu. Du bist stark. Du bist klug. Und verdammt noch mal, du bist eine der besten Volleyballspielerinnen der Schule. Wieso kannst du einen Ball mit voller Kraft ins Feld schmettern, aber hast Angst, einem Jungen eine Blume zu geben?“
Silke seufzte. „Weil ich Volleyball kann. Das hier… das ist etwas anderes.“
„Nur, wenn du es dazu machst.“ Karla stand auf und zog Silke an den Händen hoch. „Jetzt los, wir müssen zur Schule.“
Die Schule war an diesem Tag eine Mischung aus Chaos und Romantik.
Überall liefen Schüler herum, mit Rosen in den Händen oder aufgeregten Gesichtern. Einige verteilten Karten, andere lachten peinlich berührt über anonyme Liebesbotschaften. Silke spürte ihr Herz bis zum Hals schlagen.
„Da ist er“, flüsterte Karla aufgeregt.
Und tatsächlich – Horst stand am Eingang zur Sporthalle, umgeben von ein paar Teamkollegen. Er sah aus wie immer: lässig, selbstbewusst, als könnte ihn nichts aus der Ruhe bringen.
„Ich kann das nicht.“
„Doch, kannst du“, wiederholte Karla eindringlich. „Ich gehe jetzt. Du schaffst das.“
Bevor Silke protestieren konnte, war ihre beste Freundin bereits in der Menge verschwunden.
Sie stand allein mit der Rose in der Hand.
Die Sekunden zogen sich wie Kaugummi, und ihr Kopf fühlte sich an, als würde er gleich explodieren. Ihre Finger waren schweißnass. Vielleicht sollte sie einfach umdrehen und…
Doch dann drehte sich Horst um.
Und er sah sie direkt an.
Silke erstarrte. Es gab kein Zurück mehr.
Er hob eine Augenbraue, als er ihre Rose bemerkte. Sein Blick wanderte von der Blume zu ihrem Gesicht, dann lächelte er leicht.
„Hey, Silke.“
Ihre Beine fühlten sich an wie Wackelpudding. „H-Hey.“
„Für mich?“ Er nickte zur Rose.
Silke schluckte schwer. Ihr Hals war trocken.
Jetzt oder nie.
Sie hob die Hand, hielt ihm die Rose hin und zwang sich, die Worte auszusprechen: „Ja. Ich… wollte sie dir geben.“
Einen Moment lang war es still. Ihre Hände zitterten leicht, ihr Herz hämmerte gegen ihre Brust.
Dann passierte etwas, mit dem sie nicht gerechnet hatte.
Horst nahm die Rose – und grinste.
„Danke. Das ist echt nett von dir.“
Silke blinzelte überrascht. „Echt?“
„Ja. Ich… Ich wollte dir eigentlich auch eine geben.“
Ihr Kopf ruckte hoch. „Was?!“
Horst lachte leise und zog eine zerknitterte rote Rose aus seinem Sportbeutel. „Ich war mir nur nicht sicher, ob ich mich trauen soll.“
Silke wusste nicht, was sie sagen sollte.
Karla hatte recht gehabt.
Mut begann mit einem kleinen Schritt.
Kapitel 4: Ein erster Kuss und ein besonderer Mensch
Silke konnte es kaum fassen.
Horst hatte ihr eine Rose geben wollen. Horst!
Ihr Kopf war wie in Watte gepackt, ihr Herz pochte so laut, dass sie sicher war, es musste durch die ganze Sporthalle hallen. Sie starrte auf die Rose in seiner Hand – seine Rose für sie – und wusste nicht, was sie sagen sollte.
„Du… du hast wirklich eine für mich?“ stammelte sie.
Horst grinste verlegen und rieb sich den Nacken. „Ja, aber jetzt komm ich mir ein bisschen blöd vor. Deine sieht viel schöner aus.“
Silke lachte – ein echtes, freies Lachen. Die Anspannung in ihr löste sich für einen Moment auf. Sie spürte, wie sich ein warmes Gefühl in ihr ausbreitete. Zum ersten Mal in ihrem Leben fühlte sie sich nicht unsicher in seiner Nähe, sondern… wohl.
Horst hielt ihr seine Rose hin. „Hier. Jetzt sind wir quitt.“
Sie nahm sie vorsichtig entgegen, als wäre es der wertvollste Schatz der Welt. Ihre Finger streiften sich dabei leicht, und ein kleiner Schauer lief ihr über den Rücken.
„Danke.“
„Nein, danke dir.“ Er sah sie an, diesmal ein bisschen anders als sonst. Etwas weicher, etwas tiefer. „Ich hätte echt nicht gedacht, dass du mir eine gibst.“
Silke räusperte sich. „Ich auch nicht.“
Sie lachten beide.
Und dann wurde es plötzlich still zwischen ihnen.
Die Geräusche der Schule verschwanden in den Hintergrund. Silke spürte nur noch, wie Horst sie ansah, wie sich seine blauen Augen in ihre gruben. Ihr Herz hämmerte wie verrückt, aber diesmal war es kein unangenehmes Gefühl. Es war… aufregend.
„Silke?“ fragte er leise.
„Ja?“
Er trat einen kleinen Schritt näher. Nicht zu nah, aber nah genug, dass sie seinen leichten Zitronenduft wahrnehmen konnte.
„Ich… kann ich dich was fragen?“
Ihre Kehle war trocken, aber sie nickte.
„Darf ich dich küssen?“
Alles in ihr schrie: Ja, ja, ja!
Aber ihre Lippen formten nur ein leises „Ja“.
Und dann, bevor sie noch weiter darüber nachdenken konnte, beugte er sich vor.
Der Kuss war sanft, vorsichtig, und doch spürte Silke, wie sich alles in ihr überschlug. Ihr Herz raste, ihre Hände zitterten leicht, und doch fühlte es sich so unglaublich richtig an.
Es dauerte nur wenige Sekunden – vielleicht auch eine Ewigkeit. Als sie sich lösten, sahen sie sich an, beide mit roten Wangen und einem schüchternen Lächeln.
„Wow“, murmelte Horst.
Silke lachte leise. „Ja.“
Gerade in diesem Moment hörten sie ein aufgeregtes Quietschen.
„Ich wusste es!“
Silke drehte sich um – und natürlich stand Karla mit strahlendem Gesichtsausdruck ein paar Meter entfernt und sprang aufgeregt auf und ab.
„Karla, oh mein Gott…“ Silke verdrehte die Augen, konnte aber nicht aufhören zu grinsen.
„Sie hat es getan! Sie hat es wirklich getan!“ Karla drehte sich im Kreis, als hätte sie gerade den Lottojackpot gewonnen. „Ich bin so stolz auf dich!“
Und plötzlich war da noch jemand.
„Wir auch.“
Silke fuhr herum – ihre Eltern standen da. Ihre Mutter lächelte stolz, und ihr Vater nickte ihr anerkennend zu.
„Mama? Papa? Was macht ihr denn hier?“
„Nun, wir dachten, wir schauen uns an, wie unser wunderbares Mädchen den Mut aufbringt, sich endlich das zu nehmen, was sie verdient“, sagte ihre Mutter liebevoll.
„Und, ehrlich gesagt, wollten wir sehen, wie dieser Horst sich macht.“ Manfred, ihr Vater, verschränkte grinsend die Arme.
Horst schluckte, aber dann lachte er und strich sich verlegen durch die Haare. „Ich hoffe, ich hab den Test bestanden?“
„Wir werden sehen“, sagte Manfred mit gespieltem Ernst, doch dann zwinkerte er ihm zu.
Noch bevor Silke auf das alles reagieren konnte, hörte sie ein weiteres Räuspern.
„Na, na, na, so ein Theater um eine kleine Rose.“
Tante Elli.
Und Onkel Heinz.
Sie standen mit Kaffeebechern in der Hand daneben und sahen aus, als hätten sie das Schauspiel ihres Lebens erlebt.
„Ich wusste doch, dass unsere Silke nicht ewig so schüchtern bleibt“, sagte Elli und klatschte freudig in die Hände. „Das ist genau der Mut, von dem ich gesprochen habe!“
„Na ja, vielleicht nicht genau so“, warf Onkel Heinz ein, „aber ich wusste, dass du wachsen wirst, wenn du dich traust, was Neues zu wagen.“
Silke wurde das alles langsam zu viel. Sie sah sich um – ihre beste Freundin, ihre Familie, Horst – alle standen um sie herum, alle lächelten sie an, voller Stolz, voller Wärme.
Ein Kloß bildete sich in ihrem Hals.
Sie war nicht nur mutiger geworden. Sie hatte auch gemerkt, dass sie nicht allein war.
All die Menschen um sie herum, all die Worte, all die Unterstützung – sie war nicht einfach nur irgendein Mädchen, das sich einmal getraut hatte, eine Rose zu überreichen.
Sie war etwas Besonderes.
Weil sie geliebt wurde. Weil sie geschätzt wurde.
Und weil sie endlich angefangen hatte, an sich selbst zu glauben.
Horst nahm vorsichtig ihre Hand und drückte sie sanft. „Du bist echt was Besonderes, Silke.“
Sie sah ihn an, lächelte – und wusste, dass er recht hatte.
"Die Hüter der Träume: Wo Kinderträume in den Himmel fliegen und Hoffnung Wurzeln schlägt"
Auf einer versteckten Wiese, fernab vom Lärm der Stadt, liegen Basketbälle sanft im hohen Gras. Diese Bälle scheinen auf geheimnisvolle Weise dort gelandet zu sein, als wären sie nicht nur gewöhnliche Sportgeräte, sondern Träger besonderer Träume – die guten Träume der Kinder, die sie in sich bewahren und beschützen.
Kleine Schwalben flattern fröhlich um die Bälle, ihre Flügel schlagen sanft in der Sommerluft, und ihr heiteres Zwitschern erfüllt die Szenerie mit einer besonderen Harmonie. Die Schwalben scheinen zu wissen, dass diese Bälle eine wichtige Aufgabe haben: Sie bewahren die Träume von Abenteuern, die Geschichten von Siegen und die Wünsche nach Freiheit. Jeder Basketball ruht hier wie ein schlafender Hüter von Hoffnung und Freude, bereit, die Träume zu erfüllen, sobald die Kinder ihn wieder in die Hand nehmen.
Es heißt, dass ein weiser alter Basketballtrainer diese Bälle auf die Wiese gelegt hat, um einen Ort zu schaffen, an dem Kinderträume sicher aufgehoben sind. Wenn die Schwalben sich auf den Bällen niederlassen, tragen sie ein Stück dieser Träume mit sich in die weite Welt hinaus, als wollten sie die Freude und Hoffnung der Kinder verbreiten.
Und wenn die Abendsonne die Wiese in goldenes Licht taucht und der Wind sanft durch das Gras streicht, scheinen die Bälle fast lebendig zu werden. In dieser stillen Stunde kann man die sanften Echos der Kinderträume hören – Lachen, Rufen, der Klang eines aufspringenden Balls und das Zwitschern der fröhlichen Vögel. So bleibt die Wiese ein zauberhafter Ort, an dem die Basketbälle die guten Träume der Kinder bewahren und die Freude der Schwalben die Träume in die Welt hinausträgt.

Die Geschichte von Emil, dem missverstandenen Wanderer
Es war einmal in der pulsierenden Großstadt Neu-Athen, einem Ort voller Leben, Lärm und Möglichkeiten. Doch so groß die Stadt auch war, in jedem Viertel gab es eine Gemeinschaft, die oft nicht anders war als ein kleines Dorf. Im Viertel "Eichenhain", bekannt für seine verschlungenen Straßen und alten Häuser, lebte eine eingeschworene Nachbarschaft – immer freundlich nach außen, aber wachsam gegenüber Fremden.
Eines Tages zog Emil, ein ruhiger und bescheidener junger Mann, in eine kleine Wohnung am Rande des Viertels. Emil hatte in der Vergangenheit oft auf das Gute im Menschen vertraut und war fest entschlossen, in Neu-Athen neu anzufangen. Doch seine Zurückhaltung und Andersartigkeit sorgten schnell für Aufsehen.
Der Beginn des Unheils
Emil lebte zurückgezogen. Wenn er nicht arbeitete, verbrachte er seine Zeit mit Büchern, Musik und gelegentlichen Spaziergängen durch die Stadt. Er grüßte freundlich, sprach aber selten mehr als ein paar Worte. Bald begannen die ersten Nachbarn, sich über ihn auszutauschen. "Er wirkt so... eigenartig," meinte Frau Obermeier, die pensionierte Lehrerin, zu ihrer Freundin Frau Krüger. "Immer mit diesem seltsamen Blick," fügte Herr Krause, der Ladenbesitzer, hinzu.
Die Situation verschlimmerte sich, als Emil begann, Pakete zu erhalten – große, schwere Kisten, die die neugierigen Nachbarn nicht deuten konnten. "Vielleicht sind es illegale Waren," spekulierte Paul, ein ehemaliger Polizist. "Oder er bastelt an etwas Gefährlichem," murmelte Markus, sein Freund.
Die digitale Hetze
Die Gerüchte blieben nicht auf das Café oder den Laden beschränkt. Eine WhatsApp-Gruppe namens "Eichenhain Nachbarschaftswache" wurde ins Leben gerufen, und Emil wurde schnell zum Hauptthema. "Wer ist dieser Typ wirklich?" fragte jemand. Screenshots von Social-Media-Profilen, die ihm fälschlicherweise zugeschrieben wurden, machten die Runde. Besonders ein Foto, das Emil mit einem anderen Mann verwechselte, heizte die Stimmung an.
Manche Nachbarn versuchten, die Situation zu entschärfen. Lena, die junge Journalistin aus dem dritten Stock, schrieb in die Gruppe: "Wir kennen ihn doch gar nicht. Vielleicht sollten wir einfach mal mit ihm reden." Doch ihre Botschaft ging in der Flut aus Anschuldigungen und Spekulationen unter.
Die Situation erreichte ihren Höhepunkt, als Markus und Paul behaupteten, sie hätten Emil dabei erwischt, wie er im Hof "verdächtig herumgeschlichen" sei. Die Nachbarn beschlossen, die Polizei einzuschalten.
Der unerwartete Streit
Als eines Abends zwei Polizisten an Emils Tür klopften, war er überrascht, aber kooperativ. "Herr Wegener," begann einer der Beamten freundlich, "wir haben Beschwerden aus der Nachbarschaft erhalten und würden uns gern ein Bild machen." Emil ließ sie ohne Zögern herein, zeigte seine Wohnung und erklärte, dass die Pakete Bücher und Werkzeuge für sein Hobby – das Restaurieren alter Möbel – enthielten.
Während die Polizei mit Emil sprach, sammelten sich einige Nachbarn im Hof. Frau Obermeier hatte ihren Stolz verloren und rief laut: "Er hat bestimmt etwas zu verbergen!" Lena hingegen eilte hinzu und verteidigte Emil. "Das ist doch absurd! Er hat niemandem etwas getan!"
Markus und Paul, die sich in ihrer Ehre getroffen fühlten, warfen Emil weitere Vorwürfe vor. Es entstand ein lauter Streit, und die Polizisten mussten die Nachbarn beruhigen. Schließlich erklärten die Beamten: "Herr Wegener ist völlig unbescholten. Es gibt keinen Grund zur Besorgnis. Bitte behandeln Sie ihn respektvoll."
Die Worte der Polizei trafen die Nachbarn wie ein Blitzschlag. Es wurde plötzlich still. Einige senkten beschämt den Blick, andere murmelten Entschuldigungen. Emil jedoch blieb ruhig. "Ich verstehe, dass man vorsichtig ist," sagte er leise, "aber ich hätte mir gewünscht, dass man einfach mit mir spricht."
Die Einsicht der Schuldigen
In den Tagen nach dem Vorfall begannen die Nachbarn, ihr Verhalten zu hinterfragen. Paul und Markus trafen sich heimlich in der Bar "Zum rostigen Schlüssel". "Wir haben völlig überreagiert," gab Paul zu. "Wir wollten den Helden spielen, aber wir haben uns zum Narren gemacht." Markus nickte. "Ich fühle mich wie ein Idiot. Wir sollten uns bei ihm entschuldigen."
In der WhatsApp-Gruppe wurde die Stimmung ebenfalls nachdenklich. Frau Obermeier schrieb: "Ich habe mich mitreißen lassen und war voreilig. Das tut mir leid." Lena antwortete: "Vielleicht sollten wir aus dieser Situation lernen und aufhören, vorschnell zu urteilen."
Emils Reaktion
Einige Tage später lud Emil die Nachbarn zu einer Tasse Tee in seine Wohnung ein. Überraschend viele kamen. Lena war die Erste, die sich entschuldigte, obwohl sie Emil stets verteidigt hatte. "Ich hätte lauter für dich sprechen sollen," sagte sie. Frau Obermeier, Markus, Paul und viele andere folgten. Emil nahm alle Entschuldigungen mit einem sanften Lächeln an.
"Die einzige Schuld, die ich mir gebe," sagte Emil, "ist meine Naivität. Ich dachte, mein Rückzug würde reichen, um Frieden zu haben. Aber ich habe gelernt, dass Offenheit und Dialog manchmal der bessere Weg sind."
Ein neues Miteinander
Von diesem Tag an änderte sich alles in Eichenhain. Die Nachbarn wurden aufmerksamer, offener und unterstützender. Emil wurde ein fester Teil der Gemeinschaft. Er half Frau Obermeier bei ihrem Garten, brachte Markus ein altes Regal zum Reparieren, und Paul wurde zu seinem engen Freund.
Die WhatsApp-Gruppe wurde umbenannt in "Eichenhain – Zusammen Stark". Von nun an wurde dort nicht mehr getratscht, sondern Hilfe angeboten, Ideen geteilt und echte Gemeinschaft gelebt.
Das Happy End
Und so lebten Emil und die Nachbarn von Eichenhain in Frieden, mit dem Wissen, dass Missverständnisse nur durch Gespräche und gegenseitigen Respekt überwunden werden können.
Und wenn sie nicht gestorben sind, dann tratschen sie noch heute – aber nur im Guten.
ENDE
copyright 13.11.2024 HDDMS
44
Der Funke im Chaos
Kapitel 1: Die Begegnung im Feuer
Die Nacht war voller Rauch. Über der brennenden Stadt spannte sich ein Himmel aus Asche und Ruß. Carla schob den Tuchfetzen vor ihrem Mund zurecht und zog den Rucksack fester an sich. Das Geräusch splitternden Glases und entfernte Schreie begleiteten ihre Schritte, als sie durch die zerfallene Bibliothek ging. Hier suchte sie keine Bücher, sondern medizinische Vorräte – etwas, das in den Ruinen der umliegenden Krankenhäuser längst aufgebraucht war.
Das Gebäude war alt, und jeder ihrer Schritte ließ den Boden bedrohlich knarren. Eine Lampe auf ihrem Stirnband warf wackelnde Schatten an die Wände, die Regale erschienen wie stumme Wächter einer längst vergessenen Welt. Sie hatte fast den hinteren Raum erreicht, als sie ein Geräusch hörte – das Rascheln von Papier.
Carla erstarrte. Sie war nicht allein.
Langsam zog sie das Taschenmesser aus ihrer Jacke und schlich weiter. Die Luft war dick vom Gestank verbrannten Holzes, und ihre Lungen brannten mit jedem Atemzug. Sie spähte vorsichtig um die Ecke. Zwischen Bücherstapeln und einem kaputten Lesetisch sah sie einen Mann. Er stand ruhig da, fast wie eine Statue, und blätterte in einem Buch. Er wirkte völlig unbeeindruckt von der drohenden Gefahr um sie herum.
Carla runzelte die Stirn und trat näher, das Messer fest in der Hand.
„Hast du den Verstand verloren?“ Ihre Stimme war scharf und durchdringend. „Das Gebäude bricht jeden Moment zusammen!“
Der Mann hob den Kopf und drehte sich langsam zu ihr um. Seine Gesichtszüge waren kantig, das Licht ihrer Stirnlampe spiegelte sich in seinen tief liegenden Augen. Er sah sie an, als wäre sie es, die sich irrational verhielt.
„Es gibt keinen sicheren Ort mehr“, sagte er ruhig. „Warum sollte ich diesen hier verlassen, wo es noch Gedanken gibt, die die Zeit überdauert haben?“
Carla war kurz sprachlos. Sie sah auf das Buch in seinen Händen – ein verstaubter, beschädigter Band, dessen Titel nicht mehr lesbar war.
„Gedanken? Das ist dein Plan? Du willst Gedanken retten, während alles um uns herum in Flammen aufgeht?“ Sie schüttelte ungläubig den Kopf. „Hör zu, wenn du überleben willst, komm mit mir. Sonst kannst du deine Bücher gleich mit ins Feuer werfen.“
Er legte das Buch vorsichtig auf einen Stapel, als ob es ein zerbrechlicher Schatz wäre. „Sag mir“, entgegnete er leise, „warum überleben? Was bleibt, wenn nicht die Gedanken, die uns daran erinnern, wer wir waren?“
Carla verspürte einen Anflug von Wut, doch da war auch etwas anderes – etwas an seiner Stimme, das sie dazu brachte, innezuhalten. Er klang nicht wie ein Verrückter. Er klang wie jemand, der tatsächlich glaubte, dass in dieser verwüsteten Welt noch etwas Wertvolles zu finden sei.
„Hör zu“, sagte sie nach einer kurzen Pause, ihre Stimme etwas weicher. „Ich bin Carla. Krankenschwester. Ich suche medizinische Vorräte. Was… was machst du hier?“
„Bertram“, stellte er sich vor. „Philosoph. Ich suche… einen Grund.“
Carla schnaubte. „Einen Grund? Du suchst Bücher und Gedanken, während draußen Menschen sterben.“
„Und du?“, konterte er. „Was treibt dich an, Carla? Warum riskierst du dein Leben für Menschen, die vielleicht nicht einmal überleben wollen?“
Die Frage traf sie unerwartet. Sie wollte ihm antworten, dass sie helfen musste, dass es ihre Pflicht war, aber die Worte blieben ihr im Hals stecken. Stattdessen sagte sie: „Weil ich nicht aufgeben kann. Nicht jetzt.“
Ein Rumpeln ließ die Wände der Bibliothek zittern, und eine Staubwolke rieselte von der Decke. Carla griff nach Bertrams Arm. „Komm. Wir müssen hier raus.“
Zu ihrer Überraschung ließ er sich widerstandslos von ihr führen. Gemeinsam rannten sie durch die Reihen, vorbei an umgestürzten Regalen und verkohlten Büchern, bis sie das Freie erreichten. Der Nachthimmel war rot von den Flammen, und ein heißer Wind wehte durch die Straßen.
Carla ließ Bertrams Arm los und wandte sich ihm zu. „Das war knapp. Du hättest da drinnen sterben können.“
„Sterben können wir überall“, sagte er und richtete sich auf. „Aber leben… das ist etwas anderes.“
Sie musterte ihn, und für einen Moment sah sie die Erschöpfung hinter seiner Ruhe. Vielleicht war er genauso verloren wie sie – nur auf andere Weise. Sie spürte, dass sie noch lange nicht die letzte Begegnung mit diesem Mann gehabt hatte.
Kapitel 2: Eine Gemeinschaft im Aufbau
Carla und Bertram gingen durch die verwüsteten Straßen der Stadt. Der Rauch hatte sich etwas gelegt, und ein dumpfer, schwefelartiger Geruch hing in der Luft. Carla hielt ihren Rucksack fest, den sie voller improvisierter medizinischer Vorräte gefüllt hatte. Bertram lief ruhig neben ihr, als wäre er ein Beobachter in einer Welt, die nicht die seine war.
„Wo gehst du hin?“, fragte er schließlich, die Ruhe in seiner Stimme ungebrochen.
Carla blieb stehen und drehte sich zu ihm um. „Ich habe ein kleines Lager am Stadtrand. Ein paar Überlebende sind dort. Sie brauchen Hilfe – Medikamente, Wasser, manchmal einfach nur jemanden, der zuhört.“
Bertram nickte langsam, als würde er ihre Worte abwägen. „Und was treibt diese Menschen an? Hoffnung? Angst? Oder schlicht der Überlebensinstinkt?“
Carla blinzelte. „Muss es immer eine tiefere Bedeutung geben? Sie kämpfen einfach – so wie ich.“
Bertram sah sie an, seine Augen schienen sie durchdringen zu wollen. „Manchmal ist es der Kampf allein, der uns definiert. Aber ohne Ziel… ist es wie gegen den Wind zu laufen.“
Carla unterbrach ihn, bevor er weitersprechen konnte. „Hör zu, Bertram. Wenn du so weitermachst, werde ich dich hier zurücklassen. Diese Leute brauchen praktische Hilfe, keine Philosophie.“
Bertram hob beschwichtigend die Hände. „Schon gut. Aber wenn du mir erlaubst, zu kommen, verspreche ich, keine Gedanken mehr zu retten.“
Ein Anflug von Humor blitzte in seiner Stimme auf, und Carla konnte nicht anders, als zu lächeln. „Na schön“, sagte sie und wandte sich wieder dem Weg zu. „Aber wenn du nicht hilfst, schicke ich dich zurück in deine Ruinen.“
Die beiden erreichten das Lager bei Einbruch der Nacht. Es war ein improvisierter Zufluchtsort: einige zusammengeschusterte Zelte, alte Möbel und Metallteile, die als Barrikaden dienten. Eine Gruppe von fünf Überlebenden saß um ein kleines Feuer, das fast erloschen war. Die Menschen sahen müde aus, ihre Gesichter waren gezeichnet von der Härte des Lebens in dieser zerstörten Welt.
Carla kniete sich zu einem der Zelte und überprüfte die Vorräte. Sie nahm eine Flasche Wasser und reichte sie an eine junge Frau, die mit leerem Blick auf den Boden starrte.
„Liana“, sagte Carla sanft, „trink etwas. Du brauchst es.“
Die Frau hob langsam den Kopf und nahm die Flasche mit zitternden Händen. Sie trank einen kleinen Schluck, dann schloss sie die Augen, als würde sie den Moment der Erleichterung festhalten wollen. Carla sah ihr zu, dann wandte sie sich wieder um. Bertram stand am Rand des Lagers, seine Hände in den Taschen, während er die Szene beobachtete.
„Wer ist das?“, fragte eine tiefe Stimme. Ein großer Mann, muskulös und mit Narben im Gesicht, trat aus dem Schatten. Sein Name war Aksel, ein ehemaliger Soldat, der Carla schon oft geholfen hatte, das Lager zu schützen.
„Er ist mit mir gekommen“, sagte Carla, bevor Bertram antworten konnte. „Sein Name ist Bertram. Er… ist ein Philosoph.“
Aksel hob skeptisch eine Augenbraue. „Ein Philosoph? Wir brauchen keine klugen Sprüche. Wir brauchen starke Arme.“
„Ich kann stärker sein, als ich aussehe“, erwiderte Bertram gelassen. „Manchmal braucht man auch einen klaren Kopf, wenn die Welt ins Chaos stürzt.“
Aksel musterte ihn, dann wandte er sich an Carla. „Wenn er Ärger macht, ist es deine Verantwortung.“
Carla nickte. „Keine Sorge. Er ist harmlos.“
In den folgenden Tagen fügte sich Bertram wider Erwarten gut in das Lager ein. Zwar machte er keine Anstalten, schwerere Arbeiten zu übernehmen, aber seine Gespräche zogen die anderen in ihren Bann. Besonders Liana, die seit Wochen kaum ein Wort gesprochen hatte, begann wieder zu reden.
Eines Abends saßen sie um das Feuer, und Bertram stellte eine seiner typischen Fragen.
„Was würdet ihr tun, wenn all das vorbei wäre?“ Er machte eine weit ausholende Geste, die die Zerstörung um sie herum einschloss. „Wenn ihr von vorne anfangen könntet?“
Liana hob vorsichtig den Kopf. Ihre Stimme war leise, fast brüchig. „Ich… ich würde ein Haus bauen. Ein kleines. Mit einem Garten. Für meine Tochter.“
Carla schluckte schwer. Sie wusste, dass Lianas Tochter das Feuer nicht überlebt hatte, das sie in diese Hölle gestoßen hatte. Doch Liana sprach weiter.
„Vielleicht… könnte ich Blumen pflanzen. Rosen. Sie liebte Rosen.“
Bertram nickte nachdenklich. „Ein schöner Traum. Und du, Aksel? Was würdest du tun?“
Der große Mann zog die Stirn kraus. „Ich weiß es nicht. Vielleicht endlich Frieden finden. Oder zumindest… etwas Sinnvolles.“
„Frieden ist ein zerbrechliches Konzept“, sagte Bertram leise. „Vielleicht finden wir ihn nicht, indem wir ihn suchen, sondern indem wir ihn schaffen.“
Aksel sah ihn an, seine Miene schwer zu deuten. „Du redest viel, Bertram. Aber manchmal frage ich mich, ob du selbst weißt, was du suchst.“
Bertram lächelte schwach. „Vielleicht suche ich einfach nur einen Ort, an dem ich nicht mehr suchen muss.“
In den Wochen, die folgten, begann die Gruppe, ein Gefühl von Stabilität aufzubauen. Jeder hatte eine Rolle: Carla kümmerte sich um die Verletzten, Aksel sorgte für die Sicherheit, und Bertram… nun, er wurde eine Art Lehrer. Mit einer Handvoll geretteter Bücher aus der Bibliothek unterrichtete er die anderen über Geschichte, Philosophie und sogar Mathematik.
Die Gespräche am Feuer wurden tiefer, die Bindungen enger. Doch die Welt außerhalb des Lagers blieb eine Bedrohung. Eines Nachts, während Carla und Bertram auf Patrouille waren, hörten sie Schüsse in der Ferne. Carla erstarrte, ihre Hand griff automatisch nach dem Messer an ihrem Gürtel.
„Räuber“, sagte sie knapp. „Das ist das Letzte, was wir jetzt brauchen.“
Bertram sah sie an, seine Miene ernst. „Wenn sie kommen, was wirst du tun? Kämpfen? Oder verhandeln?“
Carla schüttelte den Kopf. „Manche Menschen wollen nicht reden, Bertram. Sie wollen nur nehmen.“
Er schwieg, doch sein Blick blieb nachdenklich. Als sie zum Lager zurückkehrten, bereitete Carla die anderen auf einen möglichen Angriff vor. Doch in ihrem Inneren wusste sie, dass Bertram recht hatte – nicht alle Kämpfe konnten mit Gewalt gewonnen werden.
Kapitel 3: Der Test der Gemeinschaft
Die Nacht war drückend still, bis auf das entfernte Knacken des Feuers und das leise Atmen derer, die endlich Ruhe gefunden hatten. Doch Carla lag wach. Sie saß am Rand des Lagers, ein Taschenmesser in der Hand, die Augen auf die Dunkelheit gerichtet. Der Gedanke an die Schüsse, die sie vor wenigen Stunden gehört hatten, ließ sie nicht los.
Neben ihr saß Bertram, schweigend, wie ein stiller Wächter. Die Ruhe in seiner Haltung war fast provokativ, aber Carla hatte inzwischen gelernt, dass hinter dieser Gelassenheit ein wachsam beobachtender Geist steckte.
„Du solltest schlafen“, sagte er leise, ohne sie anzusehen.
Carla schnaubte und ließ das Messer in ihrer Hand rotieren. „Das sagt der Mann, der seit zwei Stunden neben mir sitzt und in die Nacht starrt.“
Bertram lächelte schwach, sein Blick wanderte zum Horizont, wo die Dunkelheit die verwüsteten Felder verbarg. „Vielleicht beobachte ich nur die Welt. Manchmal sagt sie mehr, wenn man zuhört.“
Carla schüttelte den Kopf, ein Anflug von Ärger in ihrer Stimme. „Du redest immer so, als wäre alles ein Rätsel, das gelöst werden muss. Aber das hier ist keine Philosophie. Es ist Überleben.“
Er drehte sich zu ihr um, und zum ersten Mal sah sie einen Hauch von Härte in seinen Augen. „Und wie lange willst du überleben, Carla? Nur überleben? Gibt es einen Punkt, an dem du anfängst zu leben?“
Seine Worte trafen sie, härter, als sie zugeben wollte. Sie sah weg, die Dunkelheit schien sicherer als der Ausdruck in seinen Augen.
Am nächsten Morgen herrschte rege Betriebsamkeit im Lager. Aksel hatte sich bereit erklärt, mit einem der neuen Männer, Jonas, und dessen Gefährten auf eine Erkundung zu gehen, um die Gegend nach Vorräten abzusuchen. Carla beobachtete die kleine Gruppe, als sie sich vorbereiteten, und spürte, wie sich ein Knoten in ihrem Bauch zusammenzog.
„Bist du sicher, dass das eine gute Idee ist?“, fragte sie Aksel, während sie ihren Blick auf Jonas richtete.
Aksel zuckte mit den Schultern, seine Narben schienen im Morgenlicht noch schärfer. „Wir müssen ihnen vertrauen. Wenn sie uns verraten, werden wir es wissen.“
Carla wollte widersprechen, doch sie hielt inne. Vielleicht hatte Aksel recht. Sie wusste, dass es kein Überleben ohne Vertrauen gab, auch wenn dieses Vertrauen in einer Welt wie dieser gefährlich war.
„Pass auf dich auf“, sagte sie schließlich. Aksel nickte nur und verschwand mit der Gruppe in der Ferne.
Während die Männer unterwegs waren, kümmerte sich Carla um die Verletzten und Liana. Die junge Frau hatte sich etwas stabilisiert, doch die Schatten unter ihren Augen sprachen von tief sitzender Erschöpfung. Bertram war ebenfalls beschäftigt – er hatte sich eine kleine Ecke im Lager eingerichtet, wo er die Kinder unterrichtete.
„Warum kümmerst du dich um die Kinder?“, fragte Carla ihn, als sie ihn dabei beobachtete, wie er einer Gruppe von drei kleinen Mädchen etwas über die Sterne erklärte.
„Weil sie Träger der Hoffnung sind“, antwortete er, ohne seinen Blick von der Zeichnung im Dreck abzuwenden. „Wenn sie glauben, dass die Welt größer ist als das Chaos, in dem sie leben, haben sie vielleicht eine Chance.“
Carla konnte nichts dazu sagen. Vielleicht war es albern, in einer Welt wie dieser von Sternen zu sprechen, aber sie konnte nicht leugnen, dass die Kinder einen Funken Leben in das Lager brachten.
Die Männer kehrten spät zurück. Ihre Gesichter waren schmutzig, doch sie schienen unverletzt. Jonas trug einen schweren Sack über der Schulter, und Aksel hatte einen Wassereimer dabei. Es war nicht viel, aber es war genug, um die Gruppe für ein paar Tage zu versorgen.
„Keine Probleme?“, fragte Carla, als sie Aksel entgegenging.
Er schüttelte den Kopf. „Nein. Jonas und seine Leute wissen, wie man sich nützlich macht.“
Jonas trat ebenfalls näher. Seine Augen verrieten Müdigkeit, doch er wirkte erleichtert. „Wir haben uns an die Abmachung gehalten. Danke, dass ihr uns die Chance gegeben habt.“
Carla musterte ihn. Sie hatte erwartet, dass er sich als Verräter herausstellen würde, doch in seinem Blick lag keine Falschheit. Vielleicht hatte Bertram recht – Vertrauen war eine riskante Wette, aber manchmal lohnte sie sich.
In den Tagen darauf begann sich die Stimmung im Lager zu entspannen. Die neuen Männer arbeiteten Seite an Seite mit den ursprünglichen Bewohnern, und sogar Aksel schien langsam seine Skepsis abzulegen. Doch diese Ruhe war nur von kurzer Dauer.
In einer stürmischen Nacht hörte Carla einen Schrei. Sie stürzte aus ihrem Zelt und sah Liana, die aufgeregt auf einen der neuen Männer zeigte. Es war der jüngste von Jonas’ Leuten, ein dünner, nervöser Mann mit einem angespannten Gesichtsausdruck. Er hielt einen Sack mit Konserven in der Hand.
„Er wollte unsere Vorräte stehlen!“, rief Liana, ihre Stimme zitterte.
Der Mann stotterte eine Antwort, doch Carla ließ ihn nicht aus den Augen. „Was hast du dir dabei gedacht?“, fragte sie scharf.
„Ich… ich wollte sie nur für uns holen“, stammelte der Mann. „Ich wusste nicht, ob ihr uns wirklich alles gebt.“
Jonas trat heran, sein Gesicht eine Maske aus Wut und Enttäuschung. „Das war nicht die Abmachung. Wir teilen alles. Du hast das Vertrauen der Gruppe gebrochen.“
Carla sah zu Bertram, der still am Rand stand. Sie erwartete, dass er etwas sagen würde, doch er wartete, bis Jonas den Sack an sich genommen hatte. Dann trat er vor.
„Das hier ist ein Rückschlag“, sagte Bertram leise, aber bestimmt. „Aber es muss nicht das Ende sein. Vertrauen wächst, wenn wir es nähren, auch wenn es manchmal durch solche Fehler erschüttert wird.“
Carla sah ihn skeptisch an. „Was schlägst du vor? Sollen wir einfach so tun, als wäre nichts passiert?“
„Nein“, sagte Bertram. „Aber wir können zeigen, dass wir an das Gute glauben. Das ist die Grundlage für etwas Größeres.“
Nach langem Hin und Her beschloss die Gruppe, den Mann nicht zu bestrafen, sondern ihm eine letzte Chance zu geben. Jonas versprach, dafür zu sorgen, dass so etwas nicht wieder geschah. Carla war sich nicht sicher, ob das die richtige Entscheidung war, doch sie ließ es geschehen.
Die Tage vergingen, und langsam fand die Gruppe zurück zu einer Art Routine. Der Vorfall hatte gezeigt, wie zerbrechlich das Gleichgewicht war, doch er hatte sie auch näher zusammengebracht. Carla begann zu erkennen, dass Bertram vielleicht mehr war als ein Träumer – vielleicht war er derjenige, der die Hoffnung am Leben hielt.
Kapitel 4: Eine neue Hoffnung
Der Morgen war grau und kühl, ein seltener Nebel hing schwer in der Luft und verschluckte die Geräusche des Lagers. Carla stand am Rand des provisorischen Zauns und starrte hinaus in die unendliche Tristesse der verbrannten Erde. Die letzten Wochen hatten die Gruppe geformt, sie stärker gemacht – und doch lag eine bleierne Schwere über allem. Es war, als ob die Welt ihnen immer wieder zeigen wollte, dass nichts von Dauer sein konnte.
Bertram trat lautlos neben sie, die Hände tief in den Taschen seiner abgetragenen Jacke vergraben. Seine Ruhe war ansteckend, und Carla fühlte, wie die Spannung in ihren Schultern langsam nachließ.
„Woran denkst du?“, fragte er.
„An alles, was wir verloren haben“, antwortete sie ehrlich. „Und daran, ob es überhaupt möglich ist, etwas Neues aufzubauen.“
Bertram nickte langsam. „Es ist schwer, die Vergangenheit hinter sich zu lassen. Aber vielleicht müssen wir lernen, das, was wir verloren haben, nicht als Feind zu sehen, sondern als Lehrer.“
Carla warf ihm einen skeptischen Blick zu. „Das klingt wieder nach einer deiner tiefgründigen Philosophien.“
Er lächelte. „Vielleicht. Aber ist es nicht wahr? Alles, was wir durchgemacht haben, hat uns hierhergebracht. Und hier, Carla, haben wir eine Wahl.“
Die Ruhe wurde von einem plötzlichen Ruf unterbrochen. Es war Aksel, der mit schnellen Schritten auf sie zukam. „Wir haben Bewegung am Horizont“, sagte er knapp.
Carla und Bertram folgten ihm zum höchsten Punkt der kleinen Anhöhe, die das Lager überblickte. In der Ferne waren zwei Gestalten zu erkennen, die langsam auf das Lager zuliefen. Sie trugen keine Waffen, doch Carla wusste, dass das nichts bedeutete.
„Was sollen wir tun?“, fragte Liana, die mit besorgtem Gesichtsausdruck hinzukam.
„Wir beobachten“, sagte Carla entschieden. „Wenn sie näher kommen, reden wir. Aber wir bleiben wachsam.“
Die beiden Fremden erreichten schließlich die Grenze des Lagers. Es waren ein Mann und eine Frau, beide in zerschlissener Kleidung und mit schmutzigen Gesichtern. Der Mann hob die Hände zum Zeichen, dass er keine Gefahr darstellen wollte.
„Wir suchen nur einen Ort, an dem wir bleiben können“, sagte er mit heiserer Stimme. „Wir haben nichts mehr.“
Carla musterte sie. Ihre Gesichter waren eingefallen, ihre Bewegungen langsam und erschöpft. Sie sah keine unmittelbare Gefahr, doch sie wusste, dass sie nichts über ihre Absichten sagen konnte.
„Wie können wir sicher sein, dass ihr keine Bedrohung seid?“, fragte sie. Ihre Stimme war hart, doch sie spürte Bertrams Blick auf sich und wusste, dass er ihre Worte hinterfragen würde.
„Ihr könnt es nicht“, antwortete die Frau leise. „Aber wir haben Kinder verloren. Familien. Wir haben nur noch uns. Wenn ihr uns fortschickt, sterben wir.“
Carla sah zu Aksel, der die Hand an seinem Gewehr hatte. Seine Augen waren wachsam, doch er nickte kaum merklich. Schließlich wandte sie sich an Bertram. „Was denkst du?“
Bertram trat einen Schritt vor, seine Stimme war ruhig, aber bestimmt. „Wir sind alle Flüchtlinge in dieser Welt. Wenn wir anderen den Rücken kehren, was bleibt dann von uns übrig?“
Carla zögerte, dann nickte sie langsam. „In Ordnung. Ihr könnt bleiben. Aber wenn ihr unser Vertrauen missbraucht, wird es Konsequenzen geben.“
Die beiden Fremden bedankten sich leise, und Carla spürte, wie die Spannung in der Luft nachließ. Doch tief in ihrem Inneren wusste sie, dass jede neue Person eine weitere Herausforderung bedeutete.
In den nächsten Tagen fügten sich die Neuankömmlinge überraschend gut in das Lager ein. Der Mann, dessen Name Jakob war, zeigte sich als geschickter Handwerker und reparierte die Barrikaden. Die Frau, Miriam, brachte sich in der Pflege der Verwundeten ein und unterstützte Carla bei ihrer Arbeit.
„Vielleicht hatte Bertram recht“, sagte Liana eines Abends, während sie mit Carla am Feuer saß. „Vielleicht brauchen wir einfach mehr Menschen, um diese Welt wieder lebenswert zu machen.“
Carla lächelte schwach. „Vielleicht. Aber es braucht auch die richtigen Menschen.“
Liana nickte und sah in die Flammen. „Du weißt, dass er dir gut tut, oder? Bertram, meine ich.“
Carla warf ihr einen überraschten Blick zu. „Was meinst du damit?“
„Er bringt dich dazu, anders zu denken. Weicher. Und das ist nicht schlecht.“
Carla schwieg. Sie wusste, dass Liana recht hatte, aber sie war nicht bereit, es auszusprechen.
Die Gruppe begann, Pläne für die Zukunft zu schmieden. Sie sprachen über den Anbau von Nahrung, über den Bau stabilerer Unterkünfte und über die Möglichkeit, andere Überlebende zu finden. Es war Bertram, der die Idee einer kleinen Schule ins Spiel brachte, um den Kindern mehr als nur das Überleben zu ermöglichen.
„Wissen ist das Einzige, was uns wirklich gehört“, sagte er eines Abends. „Es ist das, was uns Menschen ausmacht.“
Carla beobachtete ihn aus der Ferne und fragte sich, wie er es geschafft hatte, in einer Welt voller Dunkelheit so viel Licht in sich zu tragen.
Eines Morgens, als die Sonne über den Horizont stieg und die ersten Strahlen das Lager erwärmten, saßen Carla und Bertram nebeneinander auf einer alten Holzkiste. Sie sprachen nicht, doch die Stille war nicht unangenehm.
„Was denkst du, kommt als Nächstes?“, fragte Carla schließlich.
Bertram zuckte mit den Schultern. „Ich weiß es nicht. Aber ich denke, das ist auch nicht wichtig.“
„Nicht wichtig?“, fragte sie skeptisch.
„Was wichtig ist“, sagte er und sah sie an, „ist, was wir jetzt tun. Und das hier, Carla – diese Gemeinschaft, die wir geschaffen haben – das ist etwas, das Bestand haben könnte.“
Carla nickte langsam. Zum ersten Mal seit langem fühlte sie sich nicht mehr allein. Vielleicht hatte Bertram recht. Vielleicht war dies der Anfang von etwas, das größer war als sie selbst.